Schlüsselpunkte des Qigong (Taijiquan, Yiquan...)

 

4. Ruhe

 

Dieser Schlüsselpunkt betont die Wichtigkeit von Ruhe. Mit Ruhe ist dabei sowohl die geistige als auch die körperliche Ruhe gemeint. Und mit der geistigen Ruhe geht auch die "Ruhe des Herzens (Xin)" d.h. der Gefühle/Emotionen einher, denn die Gefühle sind auf's Engste mit den Gedanken verbunden.

 

 

Ruhe - relativ statt absolut

 

Zu Anfang direkt etwas Grundsätzliches: Wie für das chinesische Denken geradezu typisch, ist Ruhe relativ zu sehen - und nicht absolut. Wir brauchen für das Üben geistige Ruhe - aber auch geistige "Un-Ruhe" oder besser gesagt: Aktivität. Genauso brauchen wir (relative) körperliche Ruhe für das Üben, aber zum einen wollen wir nicht "starr" und komplett unbewegt sein und zum anderen ist absolute körperliche Ruhe schlichtweg nicht möglich solange wir leben. Unser Herz schlägt und pumpt Blut durch den Körper, wir atmen ein und aus, unser Stoffwechsel läuft weiter, Gehirn und Nervensystem arbeiten usw. Selbst in der Ruhe ist immer noch Bewegung enthalten. (gemäß den Prinzipien von Yin und Yang)

 

 

Geistige Ruhe / Stille - ein dynamischer Prozess...

 

Die geistige Ruhe beim Üben bedeutet, dass wir unseren Geist, unsere Gedanken "zur Ruhe" kommen lassen. Dabei sollen nicht gänzlich alle Gedanken verschwinden, wie es manchmal heißt, sondern eher, dass die vielen oft parallel ablaufenden Gedankenprozesse gebündelt werden zu einigen wenigen: Einsgerichtete Aufmerksamkeit. Unsere geistigen Aktivitäten sind ganz auf die Ausführung der jeweiligen Übung und die damit einhergehenden Übungsinhalte und konkreten Übungsprinzipien gerichtet.

Unser Denken wird in China gerne mit einer Horde wilder Affen verglichen - die Gedanken schießen uns durch den Kopf, sprunghaft, wechselhaft, manchmal schwer zu bändigen... Natürlich ist dies nicht bei jedem Menschen gleich stark ausgeprägt und auch von den Lebenssituationen und vielem anderen mitgeprägt. Wer das bei sich selbst "testen" möchte, dem sei empfohlen (falls noch nicht ausprobiert), sich einmal hinzusetzen und bewusst zu versuchen, "nichts" zu denken. In der Regel spätestens nach einer halben Minute könnte man z.B. denken "ah, es klappt, jetzt denke ich gerade an nichts" - und das ist schon wieder ein Gedanke... noch viel wahrscheinlicher ist, dass einem schon vor Ablauf der 30 Sekunden andere Gedanken querschießen.

Genauso ist es nahezu unmöglich, etwas wahrzunehmen, ohne dazu etwas zu denken. Manchmal ist uns das bewusst und vermutlich noch viel öfter läuft das unbewusst  ab, ohne dass wir es mitbekommen - und ziemlich "automatisch", weil wir es in der Regel so gewohnt sind.

Im Zen-Buddhismus gibt es das Bild von "Gedanken" als Wolken die am Himmel vorüberziehen. Wir können uns die Wolken anschauen - und weiterziehen lassen. Gedanken dürfen sein, aber wir müssen sie auch loslassen, weiterziehen lassen können. Genau so können wir es auch im Qigong handhaben. Oft ist es aber (um bei dem Vergleich zu bleiben), dass wir einzelne Wolken schöner finden als andere (d.h. wir teilen ein und bewerten), vielleicht erinnert uns jene Wolke an eine, die wir früher schon mal gesehen haben... usw.

 

 

Der Zusammenhang von Gedanken und Gefühlen / Emotionen

 

In der chinesischen Tradition werden die Emotionen / Gefühle = "Herz" (Xin) als den gedanklichen Prozessen (Yi) unterstehend beschrieben. Gehen die Gedanken mit uns durch, gehen auch die Emotionen mit uns durch. Kommen die Gedanken zur Ruhe, kommen auch die Emotionen zur Ruhe. Neuere Erkenntnisse aus der Hirnforschung bestätigen den Zusammenhang von Gedanken und Gefühlen und dass Gefühle letztlich durch unser Denken verursacht werden. Dies ist umso interessanter, weil oft zu hören ist, dass Gefühle halt kommen und gehen wie sie wollen und dass man ihnen "ausgeliefert" ist und Gefühle praktisch nicht zu beeinflussen sind. Das Gegenteil ist der Fall - Gefühle lassen sich regulieren und es besteht eine große wechselseitige Beeinflussung von Gedanken und Gefühlen (auch wahrgenommene Gefühle beeinflussen wieder unsere Gedanken).

Entscheidend ist, sich bewusst zu machen, dass Gedanken Gefühle "machen" können und dass wir durch ein Training des Geistes (der Gedanken) auch indirekt Einfluss nehmen können auf unsere Gefühlswelt. Dazu braucht es jedoch - wie für alles - Übung und möglicherweise auch ein "Um-Denken" im Sinne von Etablierung neuer Denk-Gewohnheiten.

 

 

Stress - Sind wir den Gedanken ausgeliefert?

Durch das Suchen und Üben von "Ruhe" lernen wir ein Stück weit, uns unabhängiger von der Außenwelt zu machen und tendenziell mehr "Kontrolle" über unsere eigenen Gedanken und Gefühle zu erlangen, so dass wir glücklicher, zufriedener und stressfreier leben können. Statt von den Gedanken beherrscht zu werden, erlangen wir Einflussmöglichkeiten über unsere Gedanken zurück. Und damit ein Stück weit auch über Gefühle / Emotionen. Wichtig erscheint mir, zu betonen, dass dies keineswegs "automatisch" geschieht durch die Beschäftigung mit Qigong, sondern reflektiert und aktiv geübt werden muss.

Stress kann viele Ursachen haben. Vieles liegt auch an äußeren Bedingungen - aber selbst wenn diese momentan nicht oder nur schwer änderbar sein sollten, kann man immer noch lernen, anders mit diesen äußeren Bedingungen umzugehen - und dies wäre z.B. wie Situationen gedanklich eingeordnet oder bewertet werden. Ein Großteil des Erlebens von Stress liegt nach Meinung vieler Experten in unserem "Denkapparat" begründet, also an den Auswirkungen unserer "Gedanken" auf Gefühle und auch auf das körperliche Erleben. Der Aspekt der Ruhe kann so, im Qigong, auch bei der Stressbewältigung helfen.

 

 

Wozu Ruhe?

 

Ruhe ist nicht nur ein Ziel beim Qigong. Ruhe zu suchen und immer mehr zu finden, ist "ein Weg" beim Üben von Qigong. Durch die geistige Ruhe werden verschiedene für das Qigong wichtige Prozesse unterstützt. Geistige Ruhe erleichtert die körperliche Entspannung, genauso wie körperliche Entspannung wieder zurück wirkt und die Ruhe verstärkt. Wenn wir ruhig sind, ist somit der Körper entspannter und die Emotionen "ausgeglichener" (s.o.). Das Kultivieren von geistiger Ruhe fördert zudem weitere kognitive Prozesse wie z.B.:

 

  • Konzentration
  • Aufmerksamkeit
  • Achtsamkeit
  • Klarheit
  • Offenheit
  • Zentriertheit

 

Durch Ruhe entsteht einerseits Fokus und andererseits "Raum"/Leere - Raum für etwas Neues z.B. eine verfeinerte Wahrnehmung, insb. auch die Fähigkeit, zu spüren, den Körper wahrzunehmen usw. Dies alles zusammen ermöglicht eine gute Entwicklung der Vorstellungskraft (Yi), die wiederum - zusammen mit allem anderen - die Energie "Qi" und den Geist "Shen" harmonisiert, entwickelt und kultiviert. Yi, Qi und Shen können wiederum am besten auf den Körper wirken, wenn dieser relativ entspannt und somit durchlässig bzw. empfänglich ist für diese "Impulse" aus dem Nervensystem und dem, was die Chinesen "Qi" ("Energie") nennen.

Ruhe zu finden ist somit eine wichtige Voraussetzung für die volle Entfaltung der Wirkungen der Qigong-Übungen.

 

 
Rujing, Wuji / Hunyuan, Stille, Leere und der sog. "Qigong-Zustand"

 

Rujing (Ru = betreten, eintreten, verbinden mit; Jing = Ruhe) bedeutet so viel wie "in die Ruhe eintreten" und kann für all das stehen, was hier zu dem Schlüsselpunkt "Ruhe" geschrieben steht. Im Sinne dessen wird dann dieser Ruhezustand oft auch als "Qigong-Zustand" bezeichnet.

Der Begriff Wuji (Wu = nicht, Nichts, ohne; Ji = Pol, Extrem) wird meist übersetzt mit Leere, Uranfang, wörtlich "keine Extreme/Pole" und drückt somit eine ursprüngliche Ganzheit, Einheit aus. Der Begriff Hunyuan (Hun = ganz, einfach und natürlich, überall; Yuan = Erstes, Original (im Sinne von Ursprung); Yuan kann aber auch rund, kreisförmig bedeuten) kann übersetzt werden als "Allererstes, Ursprung" oder - in weiterer Bedeutung - auch als "überall rund". Beide Begriffe Wujiund Hunyuan gehen in ihrer relativ synonymen Bedeutung von Uranfang, Ursprung, Ganzheit, Einheit... noch über Rujing, den Zustand der Ruhe, hinaus und verweisen auf die (später) anzustrebende Leere und Stille des Geistes. Hier vermischt sich dann irgendwann Qigong mit Meditation und möglicherweise spiritueller Übung - in gewisser Weise hat Qigong jedoch fast immer meditative Anteile und Verweise auf spirituelle Bereiche.

Wuji bzw. Hunyuan können dann auch als Zustand des "Nicht-Reagierens" beschrieben werden: die Umwelt wird wahrgenommen, aber man unterliegt nicht mehr dem Zwang, reagieren bzw. interagieren zu müssen. (keineswegs für das gesamte Leben empfehlenswert - sehr oft schon wurden solche Hinweise als Aufruf zur Passivität missverstanden - in diesem Sinne ist das hier geschrieben ausdrücklich nicht gemeint, sondern es ist eher grundsätzlich als eine Art innere Freiheit zu verstehen)

 

 

Methoden, Bilder / Metaphern und Kriterien für "Ruhe"

 

  • Der Begründer des Yiquan, Wang Xiangzhai, empfahl, sich selbst als großen Schmelzofen vorzustellen, in dem alle (unruhigen) Gedanken, Emotionen usw. "eingeschmolzen" d.h. transformiert werden.
  • Wie weiter oben schon erwähnt, gibt es u.a. im Zen-Buddhismus das Bild, dass die Gedanken wie Wolken am Himmel sind und wir sie vorbeiziehen lassen (evtl. anschauen, aber nicht "anhaften" und ihnen "nachrennen")
  • Ein weiteres Bild vergleicht die Ruhe des Geistes mit einem See: wenn die ständigen Wellenbewegungen zur Ruhe kommen, wird der See "klar" und man kann sich darin spiegeln - genauso soll der Geist ruhig und "klar" werden
  • In ähnliche Richtung geht auch folgender bildhafter Vergleich: in einem durchsichtigen Eimer ist Wasser mit Schlamm vermischt - unsere kontinuierliches Denken ist wie wenn jemand ständig das Wasser im Eimer umrührt und so alles eine "trübe Suppe" ist - die Gedanken zur Ruhe zu bringen ist, wie das Umrühren des Eimers Stück für Stück aufhören zu lassen. Irgendwann kommt die Wasserbewegung zu ihrem Ende - und der Schlamm kann sich auf dem Boden des Eimers absetzen und das Wasser ist wieder "klar". Genauso sorgt die Ruhe des Geistes für Klarheit.
  • Ruhe sollte auch nicht als zu "heilig" angesehen werden - obwohl die Ruhe auch "ernsthafter" bzw. "tief" sein kann, sind auch folgende Qualitäten willkommen: heiter, gelassen, fröhlich, entspannt, zuversichtlich, "natürlich", spontan, inuitiv, vielleicht sogar verspielt...
  • Ruhe bedeutet auch, im "Jetzt" zu sein und z.B. ganz konkret bei der jetzigen Bewegung zu sein mit dem Geist - und nicht (schon) bei der nächsten oder auch (noch) bei der vorherigen Bewegung gedanklich zu sein
  • nicht werten oder urteilen, nicht anhaften, nicht ablehnen, nicht ignorieren - achtsam alles annehmen, was jetzt und hier gerade "ist" - auch dies ist Bestandteil der hier gemeinten geistigen Ruhe
  • alle Zweifel, Sorgen, Ängste, Unsicherheiten usw. loslassen um in Ruhe zu kommen... (z.B. in dem "großen Schmelzofen" einschmelzen...)
  • die Konzentration in der Ruhe sollte jedoch mit einem "weichen Fokus" sein - nicht zu sehr eingeengt auf einen Punkt (kon-zentrieren), sondern eher nebelartig, offen, "weich", unklar... Merksatz: "Konzentrieren ist falsch. Nicht konzentrieren ist auch falsch. Weder konzentrieren noch nicht konzentrieren ist wahre Konzentration." oder anders gesagt: nicht zu wenig konzentrieren, nicht zu viel konzentrieren - sowohl konzentrieren als auch nicht-konzentrieren.
  • auch kann der Bewusstseinszustand selbst variieren - halb bewusst, halb unbewusst - damit einhergehend kann es z.B. sein, dass sich ein "unklares Gefühl" ergibt, ob man die Übung selbst ausführt oder ob man "bewegt wird" - das klingt sicherlich erst mal seltsam, aber ist eher ein gutes Zeichen beim Üben, nämlich, dass die "Kontrolle" bei den Übungen nicht zu groß ist, sondern man auch "geschehen lassen kann" - und das kann Teil des Ruhe-Zustandes sein - halb wach, halb schlafend...

 

 

Positive Wirkungen von Ruhe auf Körper und Geist können z.B. sein:

 

  • das Nervensystem kommt zur Ruhe
  • der Blutdruck sinkt
  • der Muskeltonus wird geringer - Verspannungen lösen sich
  • verbesserte Durchblutung
  • geistig sind wir gelassener, stabiler, wacher, aufmerksamer usw.
  • die Verdauung verbessert sich

 

 

 

 

 

Weiterlesen:

Energie "Qi" ("Chi")