Methodik / Didaktik / Aufbau des Yiquan

 

Im Yiquan wird teilweise sehr anders trainiert als man es z.B. aus anderen Kampfkünsten gewohnt ist. Um diesen Ansatz klarer zu machen, hier einige Anregungen zu der "einzigartigen" Methodik / Didaktik des Yiquan:

 

1. Im Yiquan wird von innen nach außen trainiert. Was heißt das?

 

Schon als Anfänger beginnt man im Yiquan mit Zhan Zhuang. Über die verschiedenen Vorstellungen beginnt unmittelbar im Zhan Zhuang die "innere Arbeit" (Nei Gong). Die formalen, äußeren Übungen kommen nach und nach dazu. So erweitern sich die eigenen Fähigkeiten immer mehr - und Zhan Zhuang ist die Basis für alles andere. Die Abfolge sieht ungefähr so aus:

 

 

Zhan Zhuang = äußerlich kaum sichtbare Bewegungen (Mikrobewegungen!)


Shili und Mocabu
= die Bewegungen werden größer


Fali
= die Bewegungen werden schneller


Tui Shou
= die Bewegungen werden auf "Kraft", Reaktion usw. mit einem Gegenüber getestet


San Shou
= die Bewegungen werden auf kampftauglichkeit überprüft und optimiert


Shisheng
= Verstärkung für das Fali und San Shou


Jianwu
= Übungsform die alles vorherige integriert und vereint

 

Das ist natürlich nur ein Schema und beim Erlernen und Üben vermischen sich die verschiedenen Bereiche, denn es wäre einerseits unpraktisch, zum Beispiel 5 Jahre lang nur Zhan Zhuang zu üben und dann die erste Shili-Bewegung zu erlernen. Und andererseits macht es auch nicht so viel Spaß! Aber die grundlegende Methodik besteht eben darin von innen nach außen, die kleinen Bewegungen nach und nach auf die anderen Felder zu erweitern.

 

 

2. Innen und außen werden gemeinsam trainiert.

 

Was soll das denn jetzt? Widerspricht das nicht Punkt 1 "von innen nach außen zu trainieren"? Klares Jein!

Zwar wird generell "von innen nach außen" trainiert. Aber der Körper ist immer mit dabei! Der Inhalt = Nei Gong wird immer zusammen mit den äußeren, formalen Übungen = Wai Gong trainiert. Das heißt, Yiquan ist eigentlich gleichzeitig ein Nei Gong- und ein Wai Gong-Training! Das "Innere" und das "Äußere" entwickeln sich gemeinsam. In der Yiquan-Philosophie wird stark die Einheit betont - alles ist untrennbar eins - Gesundheit und Kampfkunst, Yin und Yang, Körper und Geist...

Der Yiquan-Großmeister Yao Chengrong hat in einem Interview mal gesagt, dass Yiquan "halb innen, halb außen" ist, sozusagen zu 50% innere Kampfkunst und zu 50% äußere Kampfkunst. Aus Sicht des Yiquan kann es praktisch gar keine "rein innere" Kampfkunst geben, weil der Körper immer auch mittrainiert werden muss. Eine "rein äußere" Kampfkunst gibt es demnach auch nicht - weil der Körper immer durch Gedanken und letztlich Nervenimpulse bewegt wird.

Die Frage ist dann eher: wie stark ist die mentale Seite eines Systems ausgeprägt? Und da hat Yiquan enorm viel zu bieten.

 

 

 

3. Inhalt ist wichtiger als "neue Übungen" oder "Form(en)".

 

Im Yiquan gibt es eine relativ überschaubare Zahl von Positionen oder Bewegungsabläufen. Und oft wird es so sein, dass man keine neue Bewegung lernt, sondern eher neue Vorstellungen in die schon bekannten Übungen einbaut. Die formalen Übungen sind auch wichtig, keine Frage - aber wenn diese "leer" das heißt ohne Inhalt geübt werden, dann ist dies kein effektives Training im Sinne des Yiquan. Deshalb gilt als grobe Faustregel: Inhalt ist wichtiger als neue Übungen oder "Form(en)"!

 

 

4. Frei und chaotisch statt "festgelegt" und "Form"


In den allermeisten chinesischen oder auch japanischen Kampfkünsten gibt es sogenannte "Formen". Diese werden dann jap. Kata oder chin. Taolu oder ähnlich bezeichnet. Vom Yiquan wiederum wird oft gesagt, es hätte keine Formen, was auch nicht so ganz stimmt. Die Frage ist, was man unter "Form" versteht.

Denn man könnte durchaus sagen, dass beispielsweise die Shili-Übungen des Yiquan auch einen zunächst mal festgelegten Bewegungsablauf beschreiben. Und auch die Punkte bei der Körperhaltung könnte man als Form des Körpers (Xing) bezeichnen. Ganz komplett ohne "Form" kommt also auch das Yiquan nicht aus.

Der große Unterschied besteht jedoch darin, dass es im Yiquan praktisch keine in fester Reihenfolge miteinander verbundenen Bewegungsabläufe gibt! Alle Bewegungen werden sehr früh frei geübt. Von Moment zu Moment kann man so die Bewegungen wechseln, je nachdem wo einem der Sinn nach steht. Die Hauptargumentation ist dabei: in einem Kampf ist auch nichts vorherbestimmt, alles ist frei und man muss flexibel und spontan auf alles reagieren. Das wird dann als Prinzip in das Yiquan-Training übertragen. So werden in diesem System Freiheit, Kreativität, Flexibilität und auch Individualität gepflegt.

Vielen, die aus Kampfkünsten mit Formen kommen, fällt es dann schwer im Yiquan auf Formen zu verzichten. Teilweise kann es dann sogar schwer sein, zu verstehen, wie Yiquan funktionieren kann ohne Formen. Aber ohne Formen heißt eben noch nicht, dass es weniger wirksam wäre - eher ganz im Gegenteil! (aus Yiquan-Sicht)

 

 

 

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