Geschichte / Historie des Yiquan (I Chuan, Da Cheng Quan)

 

 

Die Entstehungsgeschichte des Yiquan gibt Einblicke in eine höchst seltene und außergewöhnliche Entwicklung innerhalb der chinesischen Kampfkünste. Diese Geschichte ist verständlicherweise eng verknüpft mit dem Leben des Begründers des Yiquan - Meister Wang Xiang Zhai (1886-1963). Wang hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die wesentlichen Inhalte  der traditionellen chinesischen Kampfkünste schneller erlernbar zu machen und offen weiterzugeben.

 

Die Anfänge: Xing Yi Quan

Wie so viele Geschichten von Kampfkunst-Meistern wird auch von Wang Xiang Zhai gesagt, dass er ein kränkelndes und eher schwaches Kind war.  Da die Familie von Wang Xiang Zhai verwandschaftlich verbunden war mit der des Xing Yi Quan-Meisters Guo Yun Shen, hat Wangs Vater entschieden, dass der junge Wang bei Guo Kampfkunst lernen soll. Mit acht Jahren wurde Wang so Schüler von Guo Yun Shen aus der Provinz Hebei. Dieser hatte es zuerst abgelehnt, Wang zu unterrichten, weil Guo schon alt war. Da der junge Wang sich dann sogar noch als talentiert herausstellte hat Guo Yun Shen vor allem ihm die "Geheimnisse" des Zhan Zhuang, der „Stehen wie ein Baum“-Übungen, vermittelt.

Wang wurde dadurch schon früh sehr gut und trat 1907, mit Anfang 20, der Armee bei. Am Anfang half er nur in der Küche, aber als ein Offizier herausfand, wie erfahren Wang im Kampf war, ernannte man ihn zum Leiter der Abteilung für Kampfkunst. Später stellte Wang auch einige weitere berühmte Kämpfer wie Sun Lu Tang (1860-1933) und Shang Yun Xiang (1864-1937) ein.

1913 erlangte Wang Berühmtheit, weil er den Begründer des Li-Stil Tai Ji Quan, Li Rui Dong, besiegt hatte. 1915 besiegte Wang Zhou Ziyan, einen Meister des Gottesanbeterinnen-Kung Fu (Praying Mantis / Tang Lang Quan), der dann Wangs Schüler wurde.


Reise durch China – Austausch mit anderen Meistern

Im Jahr 1918 entschloss sich Wang, für mehrere Jahre durch China zu reisen um von anderen Meistern zu lernen und sich auszutauschen. Als erstes ging er in den Shaolin-Tempel und lernte dort XinYiBa, einem dem Xing Yi Quan verwandten Stil, von einem Mönch namens Henglin. In der Hubei Provinz lernte Wang von Meister Jie Tiefu. In Fujian (Süd-China) traf er die beiden Meister Fang Qiazhuang und Jin Shaofeng vom Weißen-Kranich-Boxen (Bai He Quan).

Wieder zurück in Nordchina traf er Huang Muqiao, einen berühmten Meister des Xin Yi Quan, von dem er den „Gesundheitstanz“ (Jian Wu) lernte. In Xi'an traf Wang Liu Peixian, der berühmt für seine schnellen Tritte war. Wang lernte weiterhin Ba Gua Zhang von Liu Fengchun und traf die Tai Ji Quan-Meister Yang Shaohou und Yang Chengfu. Dies sind nur einige der Master, von denen Wang lernte oder mit denen er sich austauschte.

 

Ein neuer Name: Yiquan (frühe Periode in Peking)

Ab 1925 begann Wang in Peking Xing Yi Quan zu unterrichten. Dabei bemerkte er, dass seine Schüler zu sehr auf äußere Formen und festgelegte Abläufe fixiert waren und zu wenig auf die innere, mentale Arbeit. Daraufhin änderte Wang die Trainingsmethodik und auch die Bezeichnung seines Kampfkunstsystems. Er stellte die Zhan Zhuang (Stehen wie ein Pfahl)- und Shi Li-Übungen (eine Trainingsmethode zum Erfühlen der inneren Kraft) sowie insgesamt die Arbeit mit dem „Yi“ (Vorstellung) in den Mittelpunkt des Trainings, mit dem Ziel, wieder zur Essenz der Kampfkunst zurückzukehren. Yiquan war geboren. (das "Xing" in "Xing Yi Quan" steht für "Form/Gestalt" - diesen Teil des Namens strich Wang und stellte somit das "Yi" in den Vordergrund)

Dabei dachte Wang am Anfang nicht an die Entwicklung einer neuen Kampfkunst. Er wollte zunächst an die Quelle und Wurzel des Xing Yi Quan zurück um diese Kunst vollständig zu erfassen. Dort angekommen erkannte er die Gemeinsamkeit aller inneren Kampfkünste.

1928 reiste Wang zusammen mit seinen Schülern Zhao Enqing (später von Wang Zhao Daoxin genannt) und Zhang Zhankui nach Hangzhou, wo Wang Schiedsrichter eines Freikampf-Wettbewerbes war und auch Trainingsmethoden seines Yiquan-Systems demonstrierte. Wang's Schüler Zhao Enqing gewann das Turnier.

Daraufhin wurde Wang von Qian Yantang (einem weiteren Schüler von Guo Yun Shen) nach Shanghai eingeladen.


Shanghai-Periode

In Shanghai traf Wang erneut auf Sun Lu Tang. Außerdem traf Wang in Shanghai Wu Yihui, einen Meister des Liu He Ba Fa („Wasserstil-Boxen“), den Wang später als einen der drei größten Meister beschrieb, die er jemals getroffen hat (die anderen beiden waren Jie Tiefu und Fang Qiazhuang). Zu dieser Zeit gab es regen Austausch zwischen Wang Xiang Zhai und seinem Yiquan sowie Wu Yi Hui und Liu He Ba Fa - Wangs Schüler lernten teilweise auch bei Wu Yihui und umgekehrt.

Bekanntere Schüler von Wang aus der „Shanghai-Zeit“ des Yiquan sind Bu Enfu, You Pengxi, die Brüder Han Xingqiao und Han Xingyuan, Zhang Changxin, Gao Zhendong... U.a. durch Zhang Changxin und Kämpfe von anderen Schülern Wangs sowie von von Wang selbst sind auch Einflüsse aus dem westlichen Boxen ins Yiquan aufgenommen worden.

Han Xingqiao, Zhao Daoxin, Zhang Changxin und Gao Zhendong wurden berühmt in Shanghai als die „vier diamantenen Kämpfer“. Wang schrieb zu dieser Zeit auch sein erstes Buch „Der korrekte Pfad des Yiquan“. Wang kritisierte darin viele bekannte Konzepte in Xing Yi Quan-Kreisen, aber viele seiner Ideen waren noch an traditionellen Konzepten orientiert, die er in seinen späteren Jahren aufgab. Wangs Yiquan war mittlerweile aber schon sehr verschieden zu dem, was andere Xing Yi Quan-Meister unterrichteten.

 

Wieder Peking – „Blütezeit“ des Yiquan – "Da Cheng Quan"

1937 kehrte Wang Xiang Zhai nach Peking zurück. Unter anderem gab es dort einen Kampf zwischen Wang und Hong Lianshun, einem Meister des Tan Tui und Xing Yi Quan. Wang hat Hong besiegt, woraufhin Hong Lian Shun Schüler von Wang wurde und alle seine eigenen Schüler an Wang übergeben hat. Unter ihnen war auch Yao Zong Xun.

Yao Zong Xun wurde 1917 in Hangzhou geboren, aber er lebte von Kindheit an in Peking. Yao war sehr an traditioneller chinesischer Kampfkunst aber auch an westlichem Sport interessiert. Er hat später an der Universität Literatur studiert und sich auch mit anderen Zweigen der Wissenschaft beschäftigt. Mit 16 begann er, Tan Tui und Xing Yi Quan bei Hong Lian Shun zu lernen. Als Wang Xiang Zhai das Training übernahm, war Yao 20 Jahre alt.

Schnell wurde Wang auf den jungen Yao aufmerksam und wies Han Xingqiao an, ihm extra Training zu geben. Yao Zong Xun machte sehr schnell Fortschritte und wurde bald einer der besten Schüler von Wang. Später sollte Yao Zong Xun offiziell Wangs Nachfolger werden.

1939 veröffentliche Wang einen Text in der Zeitung „Shibao“ in dem er alle Meister der Kampfkünste einlud zum Austausch von Ideen und Erfahrungen. Die Kommenden wollten meistens ihre Fähigkeiten mit Wang messen. Wang wählte vier seiner Schüler aus, die an seiner Stelle die Kämpfe austrugen: Han Xingqiao, Hong Lianshun, Yao Zongxun und Zhou Ziyan. Erst wenn einer dieser vier besiegt wurde, würde Wang einspringen. Aber keiner, der kam, besiegte je einen der vier.

Im Jahr 1940 wurde ein Japaner Schüler von Wang nachdem dieser ihn besiegt hatte: Kenichi Sawai, zu dieser Zeit 5. Dan Judo, 4. Dan Kendo, 4. Dan Iaido. Vermutlich aufgrund des damaligen chinesisch-japanischen Krieges wurde Yao Zong Xun von Wang angewiesen, Kenichi Sawai nicht alles zu zeigen. Kenichi Sawai wird zwar als Wangs Schüler gesehen, aber vor allem Yao Zongxun hat ihn unterrichtet. Kenichi Sawai begründete später sein eigenes System in Japan, dass er Tai Ki Ken nannte. (Ein bekannterer Schüler von Kenichi Sawai ist z.B. Masutatsu Oyama, der das Kyokushinkai-Karate begründete, in dem Einflüsse vom Tai Ki Ken enthalten sind.)

1941 gab Wang sechs seiner besten Schüler Ehrennamen um auf diese Weise seine hohe Meinung über ihr Können auszudrücken:

 

  • Zhao Enqing bekam den Namen „Daoxin“ = Zhao Daoxin
  • Han Xingqiao den Beinamen "Daokuan" = Han Daokuan
  • Bu Enfu den Beinamen "Daokui" = Bu Daokui
  • Zhang Entong den Beinamen "Daode" = Zhang Daode
  • Zhao Fengyao den Beinamen "Daohong" = Zhao Daohong

Alle diese Namen wurden in der selben Weise aufgebaut wie die Namen von Wangs Söhnen – sie enthielten alle das Wort „Dao“. Yao ZongXun, obwohl er jünger war und weniger lang Yiquan lernte als die anderen, bekam den Ehrennamen "Jixiang", was soviel bedeutet, dass er als Nachfolger von Wang Xiang Zhai auserwählt war (Ji = nachfolgen; Xiang = Teil von Wang Xiang Zhai's Namen). Wang übergab Yao Zongxun auch einen Fächer auf dem eine Kalligraphie von Wang war, in der deutlich stand, dass er Yao Zongxun als Nachfolger vorsieht.

In den 1940er bis etwa 1950er Jahren wurde zeitweise auch von einigen Schülern von Wang ein neuer Name für das System vorgeschlagen: Da Cheng Quan. Wang war nie ganz glücklich mit diesem Namen, da „Da Cheng“ soviel heißt wie „vollendet, perfekt“ und es Wangs Ansicht nach nichts Perfektes gibt in den Kampfkünsten und auch sein System sich immer wieder verändern und weiterentwickeln wird, Generation für Generation. Eine Zeit lang akzeptierte er jedoch diesen Namen, weil seine Schüler ihn benutzen wollten, auch um Wang zu ehren. Später kehrten die meisten wieder zum ursprünglichen Namen „Yiquan“ zurück, wobei es auch heute noch welche gibt, die es „Da Cheng Quan“ nennen.

In dieser Zeit gab Wang auch mehrere Interviews für Zeitungen, in denen er seine Sichtweise und kritischen Gedanken über die chinesischen Kampfkünste teilweise sehr deutlich beschrieb. 1944 schrieb er auch ein weiteres Buch „Zentraler Angelpunkt der Kampfkünste" („Central Pivot of the Way of Fist“), in dem er fast komplett alle traditionellen alten Ideen, die in seinem ersten Buch noch enthalten waren, aufgab.

Ab Mitte der 1940er Jahre wurde Yao Zongxun Wangs Hauptassistent und normalerweise unterrichtete er ab jetzt diejenigen, die am Kampfaspekt interessiert waren. Wang selbst wandte sich mehr und mehr den Gesundheitsaspekten zu. Wang erlaubte Yao Zongxun auch, Neues auszuprobieren sowie Veränderungen zu machen, wenn sie ihm sinnvoll erschienen. So begannen z.B. Pratzen sowie Schutzausrüstung für Freikämpfe Einzug ins Training zu erhalten.

In der „Gesundheitsgruppe“ von Wang zu dieser Zeit waren z.B. auch Yu Yongnian und Hu Yaozhen sowie Wangs Tochter Wang Yufang. Im Zuge der Gesundheitsgruppe hat sich auch der Name „Zhan Zhuang Gong“ mehr verbreitet – weil zu dieser Zeit (und auch später, als das Unterrichten der Kampfkunstaspekte nicht oder nur schwer möglich war) vor allem die Gesundheitsübungen des „Stehens“ sowie Shili unterrichtet wurden.


Schwierige Zeiten

Ab 1949 wurde es aufgrund des kommunistischen Regimes in China und aufgrund der allgemeinen politischen Umstände schwierig, Yiquan als Kampfkunst zu betreiben, schon gar nicht öffentlich. 1953 wurde Yao Zong Xun Vater von Zwillingssöhnen: Yao Cheng Guang und Yao Cheng Rong.

Ab 1962 wurde es wieder leichter, Yiquan öffentlich zu unterrichten. Ein bekannterer Schüler von Wang aus dieser Periode ist z.B. Bo Jiacong. Andere Schüler von Wang gingen auch zu Yao Zong Xun um weiteren Unterricht zu erhalten, wie z.B. Yu Yongnian, Wang Binkui und Li Jianyu.

Wang Xiang Zhai, der auch als ein Meister des Chan (Zen) galt und auch als Dichter, Maler und Kalligraph bekannt war, starb am 12. Juli 1963 in Tianjin.

Die Zeit der Kulturrevolution schließlich (1966-1976) zwang die Kampfkünste in den Untergrund. Die Familie von Yao Zong Xun wurde zur Arbeit auf's Land geschickt. Trotz der schlechten Bedingungen unterrichtete Yao Zong Xun seine beiden Söhne im Yiquan. 1970 konnte Yao Zongxun nach Peking zurückkehren und es fand sich dort schon wieder ein offeneres Klima. Umgehend unterrichtete er wieder öffentlich Yiquan und arbeitete an der Verbreitung des Systems. 1984 gründete Yao Zongxun die Yiquan Forschungsgesellschaft Peking und wurde deren erster Präsident.

Ein weiterer bekannterer Schüler von Yao Zong Xun ist Cui Ruibin.

1985 verstarb Yao Zong Xun.

 

Yiquan heute

Gegenwärtig kann sich Yiquan frei entfalten und verbreiten. Insbesondere die beiden Zwillingsbrüder ("Twin Stars of Yiquan") Yao Cheng Rong und Yao Cheng Guang haben das Erbe angetreten, Yiquan zu verbreiten und weiterzuentwickeln. Yao Cheng Rong und Yao Cheng Guang haben bereits viele Schüler, die Yiquan auch in anderen Teilen der Welt weitergeben. Yao Cheng Rong hat einen Sohn, Yao Yue, der ebenfalls Yiquan weitergibt.

Aber es gibt auch im Yiquan viele weitere „Linien“ durch die vielen Schüler von Wang sowie die Schüler von Wangs Schülern usw. Manche Unterschiede sind auch bedingt durch die verschiedenen Zeit-Perioden von Wangs eigener Entwicklung des Yiquan. Die, die früh bei Wang gelernt haben, haben ein anderes Yiquan kennengelernt, als Wang in seinen späteren Jahren unterrichtet hat.

Insgesamt ist es vor allem das Verdienst von Wang Xiangzhai, die Zhan Zhuang-Übungen systematisch ausgebaut und deren innewohnenden „Schätze“ und damit die Essenz der chinesischen Kampfkünste vielen Menschen zugänglich gemacht zu haben. Zhan Zhuang wurde auch als die „Mutter“ des Qigong wiederentdeckt. Wang Xiangzhai und das Yiquan haben so viele Qigong- und „Kung Fu“-Stile beeinflusst. Es wird sogar gesagt, dass z.B. nicht zuletzt durch Wang Xiangzhai das Zhan Zhuang Einzug erhalten hat in manche Taijiquan-Linien.

 

 

 

 

 

 

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Formale Trainingsbereiche des Yiquan