Grundsätzliches zum Thema "Atmung"

 

Anhand der Atmung kann man wunderschön das sanfte Übe-Prinzip der (mehr oder weniger) daoistisch geprägten Übungssysteme wie es Taijiquan, Qigong und Yiquan sind, darlegen. Meine Position orientiert sich dabei am sogenannten "Wasser-Weg", der im Gegensatz zum "Feuer-Weg" sehr sanft vorgeht und betont, dass alle Veränderung ein längerer Prozess ist und nicht künstlich vorangetrieben werden sollte.

 

Doch als erstes ein bisschen Anatomie und Physiologie der Atmung:

 

Wir haben zwei Lungenflügel, einen rechts einen links. Auch wenn ich im folgenden davon spreche, dass der Atem z.B. in den Bauch geht, dann ist das eine Gefühlsqualität die in der Atembewegung steckt - die Luft, die wir einatmen geht jedoch nur in die Lungen bis zu den Lungenbläschen, dort findet der Gasaustausch statt und beim Ausatmen geht sie den umgekehrten Weg über den Atemtrakt wieder hinaus.

So führen wir dem Körper Sauerstoff zu und atmen Kohlendioxid ab.

Die Atembewegung kommt hauptsächlich durch zwei Muskel(gruppen) zustande:

  1. das Zwerchfell
  2. die Zwischenrippenmuskeln

Das Zwerchfell liegt wie eine Platte im Rumpf und trennt den Brustkorb vom Bauchraum. Im ausgeatmeten Zustand ist das Zwerchfell erschlafft und liegt wie eine Kuppel nach oben gewölbt im Rumpf - die Lungen sind jetzt komprimiert und bis auf einen kleinen Rest Luft leer.

Bei der Einatmung zieht sich das Zwerchfell zusammen, d.h. diese Kuppel verkleinert sich nach unten - dadurch bekommen die Lungen mehr Raum und dehnen sich und es strömt Luft ein.

Unterstützt wird die Atmung durch die inneren und äußeren Zwischenrippenmuskeln. Die inneren heißen so, weil sie innen zwischen den Rippen verlaufen und durch Kontraktion die Ausatmung unterstützen, indem sie die Rippen quasi nach innen ziehen. Die äußeren Zwischenrippenmuskeln verlaufen außen an den Rippen und heben den Rippenkasten nach außen oben, so dass mehr Volumen in die Lungen geht (Sogwirkung).

Es gibt noch eine Atemhilfsmuskulatur, die jedoch nur dann anspringt, wenn der Mensch in Atemnot gerät - das sollte während der Übungen nun wirklich nicht der Fall sein!

Die Atmung hat noch eine Besonderheit: normalerweise wird sie unwillkürlich vom Atemzentrum im Gehirn gesteuert - ohne auf den Atem achten zu müssen atmen wir ständig, 24 Stunden lang an 7 Tagen der Woche. Die Atmung kann aber auch willkürlich beeinflusst werden. Allerdings hat das Grenzen, denn irgendwann springt das Atemzentrum wieder an - Beispiel: man kann eine Zeit die Luft anhalten, aber irgendwann wird man wieder einatmen müssen, egal ob man will oder nicht, es passiert einfach. Denn es gibt bestimmte Rezeptoren, die im Blut bestimmte Werte messen und dann dem Atemzentrum irgendwann melden "hey, wird langsam Zeit, dass mal wieder Sauerstoff kommt" und dann wird ein unwillkürlicher Reflex der Atmung ausgelöst.

An dieser Stelle schon mal gesagt: der Atem kann sicher meiner Meinung und der Meinung der meisten meiner Lehrer sehr gut von selbst regulieren. Wenn er "sich selbst überlassen wird" passt er sich wunderbar den Gegebenheiten an - wenn wir uns mehr anstrengen atmen wir anders wie wenn wir uns weniger anstrengen. Was wäre es kompliziert, wenn wir dann den Atem erst bewusst anpassen müssten. Ich wage mal zu behaupten, dass die Natur viel cleverer ist als wir, wenn wir versuchen den Atem zu kontrollieren.

In vielen energetischen Systemen wird gelehrt, dass Muskeln Emotionen speichern - und die Atmung zu "kontrollieren" kann schnell dazu führen, dass sich Muskeln eher noch mehr verspannen. Dies ist zumindest die Sichtweise des "Wasser-Wegs" und deswegen sollte man sich ein mal mehr im "Loslassen" üben und Entspannung Stück für Stück zulassen lernen.

 

Zwei verschiedene Atem-Typen kurz beschrieben:

1. Brustatmung

Die sogenannte Brustatmung ist eine flache Atmung. Sie ist fast "normal" würde ich sagen - auch durch das, was wir an Haltung beigebracht bekommen haben ("Bauch einziehen", "Brust raus, Bauch rein" usw.). Bei dieser Atmung bewegt sich das Zwerchfell eher wenig - die Atmung geht so, dass meist kurz und flach geatmet wird, so dass sich vorne der Brustkorb hebt und senkt. Dies bedeutet viel Stress für das Herz und energetisch ist der Schwerpunkt des Körpers nach oben verlagert. Die Energie kann schnell in den Kopf schießen und zu verschiedenerlei Unwohlsein führen.

2. Bauchatmung

Bei der Bauchatmung wird das Zwerchfell sehr viel mehr benutzt. Dieser Muskel zieht beim Einatmen stark nach unten, so werden die gesamten Bauchorgane rhythmisch massiert, es bleibt Bewegung im Bauchraum wodurch sich die Durchblutung erhöht. Dadurch dass das Volumen nun nach unten in den Rumpf geht statt im Brustkorb stecken zu bleiben, wird das Herz entlastet und die Lungen besser belüftet, weil mehr Luft eingeatmet werden kann. Der Körper bekommt mehr Sauerstoff und dadurch wird die Atem-Frequenz niedriger = langsamer. Außerdem sinkt damit der Schwerpunkt ab - der Mensch kommt wieder in Verbindung zu seiner Mitte.

Es gibt noch viele weitere Atmungstypen - doch der wesentlichste Unterschied ist im Grunde schon genannt. Wie weiter unten klar wird, halte ich es für sinnvoll, mit dem ganzen Rumpfraum zu experimentieren, Bewegung in alle Richtungen zu bringen und den Atem nicht nur in eine bestimmte Region zu schicken.

 

Nun zurück zu unseren Übungen:

Atmung wird meinem Verständnis nach nicht "gemacht", sondern sie verändert sich mit der Zeit von selbst, indem man sie beobachtet (Intention) und geschehen lässt. Meister Zhi-Chang Li (Stilles Qigong) sagt mit einem Vergleich: Man kann einen Grashalm nicht dadurch schneller wachsen lassen, dass man an ihm zieht. Aber man kann gute Bedingungen für sein Wachstum schaffen, indem er Licht bekommt, gegossen wird... Dann wird er von selbst wachsen und sein Potential entfalten können.

Beim Üben geht es ganz oft gar nicht darum, etwas zu "machen", sondern vielmehr andere Dinge "sein zu lassen". Das Prinzip dahinter wird im Taoismus "Wu Wei" genannt - "Handeln durch Nicht-Handeln". Auf die Atmung bezogen heisst das: alleine durch Beobachtung der Atmung verändern wir sie schon - denn wo unsere Intention ist, dort geht auch die "Energie" hin. Wir sind es so gewohnt, Dinge mit unserem Willen voranzutreiben, dass wir diesen sanften Prozess schnell geneigt sind zu übersehen.

 

Im Tao-Te-King, einem taoistischen Weisheitsbuch, steht in Kapitel 48 "Die Kunst des Nicht-Handelns":

"Ist Wissen dein Ziel, so mehre täglich deine Handlungen.
Ist der Weg dein Ziel, so mindere täglich deine Handlungen.
Mit jedem Schritt mindere, bis du ankommst im Nicht-Handeln.
Im Nicht-Handeln ankommen heisst Wu-Wei.
Und im Nicht-Handeln bleibt nichts ungetan.

Mühelos nur hält man die Welt.
Sobald man Mühe aufwendet,
entgleitet unhaltbar die Welt."

 

Das führt uns direkt zu einer von fünf Qualitäten, die die Atmung während des Übens haben soll: der Natürlichkeit.

 

Die fünf Qualitäten der Atmung (für Qigong, Taijiquan, Yiquan...):

 

  1. sanft
  2. lang
  3. tief
  4. gleichmäßig
  5. natürlich

 

Sanft bedeutet, dass keine zusätzliche Muskelspannung eingesetzt werden soll. Der Fokus liegt auf der Intention und Intention kann sanft sein - sie kommt ohne große körperliche Anstrengung aus, denn jedes "Zuviel" kreiert neue Spannungen und Blockaden, die wir ja gerade reduzieren wollen. Im Chinesischen heisst das Prinzip dahinter "Yu yongli bu yongli" = "Keine Kraft, aber die Idee ist da." (Ist übrigens eine der 10 Taijiquan-Prinzipien von Yang Cheng-Fu)

Lang bedeutet, dass der Atem langsam wird (aber natürlich nicht zu langsam). Der Atem wird von selbst langsamer, wenn wir im Geist zur Ruhe kommen.

Tief heißt, dass der Atem sich in alle Richtungen im Rumpf ausbreitet - nicht nur im Brustkorb, sondern auch in den Bauch, in die Flanken, in den Rücken, ins Becken. Das kann der Atem jedoch nur, wenn der Rumpf entspannt, flexibel und präsent genug ist. Wenn irgendwo zu viel Spannung ist, dann kommt die Bewegung dort nicht hin.

Gleichmäßig bedeutet, dass der Atem einen natürlichen Rhythmus findet. Dieser ist nichts Statisches und er ändert sich, wenn wir uns mehr oder weniger anstrengen.

Natürlich ist im Grunde die wichtigste Qualität. Natürlich heisst, dass nichts erzwungen werden soll (Wu Wei). Insbesondere soll der Atem nicht dazu gezwungen werden, sanft, lang, tief, gleichmäßig und natürlich zu werden, sondern (um es zu wiederholen) die Bedingungen sollen geschaffen werden, so dass der Atem von selbst sanft, lang, tief, gleichmäßig und natürlich werden kann.

 

Was kann man nun konkret mit dem Atem "tun"?

 

Ich würde etwa folgende Reihenfolge empfehlen:

  • als erstes immer die Körperhaltung ausrichten - in Bezug auf die Atmung kann die Beckenstellung, Solarplexusregion, Bauch, Brustkorb/Rippen und Wirbelsäule, Hals/Kopf-Ausrichtung sowie die Schulterregion Einfluss nehmen und die natürliche Atmung behindern, also hier zunehmend auf physiologische Ausrichtung und Entspannung achten
  • Dann den Körper soweit es geht entspannen (und das schließt im Grunde immer die Atemmuskulatur mit ein)
  • Nun den Atem ruhig eine Weile einfach beobachten, wahrnehmen ("Ist-Zustand")- und sich an die fünf Qualitäten erinnern (und unter welchen Bedigungen sie entstehen können)
  • Man kann den Atem einladen, in verschiedene Bereiche des Rumpfes zu gehen und sie zu erkunden, z.B. in den Bauch/Unterbauch, die seitlichen Rippen, die rückwärtigen Rippen/oberer Rücken, von den Schulterblättern den Nacken hoch, aber auch unten in die Seiten des Bauches und hinten in den unteren Rücken. Außerdem ins Becken, hin zu den unten verlaufenden Muskelplatten - dem Beckenboden. Man kann den Atem überall hin einladen oder begleiten, ohne Anspannung, er breitet sich wie eine Gaswolke natürlich in alle Richtungen (dreidimensional) aus - bis hin zur Vorstellung, dass der ganze Körper von der Atmung bewegt wird und der Atem in der Vorstellung/im Empfinden überall hingeht, bis zur Haut und darüber hinaus. Wieder einmal gilt: Wo die Intention hingeht, dort geht auch die "Energie" hin - und es wird sich dort etwas verändern, wenn man es nicht zu sehr forciert. Das ist auch der Weg, die gesamten an der Atmung beteiligten Strukturen zu entspannen und zu integrieren.

 

Wie eigentlich alle inneren Prinzipien und Qualitäten, ist auch die Atmung meines Erachtens zunächst in stillen Übungen d.h. ohne äußerliche Bewegung im Stehen, Sitzen oder Liegen (insbesondere im stehenden Qigong = Zhan Zhuang = "Stehen wie ein Baum"-Chi Kung) am besten in der oben beschriebenen Weise zu üben. Alleine in den bewegteren Übungen wird es schwerer zu finden sein, weil man zumindest am Anfang durch die äußere Bewegung/den Ablauf zu sehr abgelenkt ist.

Umgekehrt kann aus jeder Übung eine Atemübung werden - wenn wir den Fokus auf die Atmung legen. Ich finde diesen Gedanken sehr spannend, denn das bedeutet, je nachdem wo wir hinschauen bzw. wie wir etwas sehen, werden wir entweder gar keine Atemübung sehen oder wir sehen nur Atemübungen oder wir sehen lauter Möglichkeiten, ständig den Atem zu üben - es ist unsere Wahl, die natürlich ein gewisses Bewusstsein voraussetzt.

Letztlich kann es auch ein Ziel sein, den Atem irgendwann zu vergessen, wenn er sich natürlich ergibt oder besser gesagt: damit er sich natürlich ergeben kann.