Anmerkung vom 09.08.2013: Diesen Artikel habe ich im Jahr 2009 geschrieben. Er ist immer noch "gültig", auch wenn sich vieles seit 2009 für mich wieder weiterentwickelt hat! So oder so: Viel Spaß bei der Lektüre!

 

Bewegung und ihre Qualität

 

Im Taijiquan, Qigong, Yiquan usw. geht es nicht nur um "Bewegung an sich" und "Hauptsache, man bewegt, egal wie", sondern gerade im Gegenteil - vor allem das "Wie", die Qualität von Bewegungen ist entscheidend. Dazu ein paar Anregungen in diesem Artikel (ohne Anspruch auf allumfassende Vollständigkeit). 

 

Unsere Reise durch EINE Bewegung beginne ich bei der Wahrnehmung, beim Beobachten. Andere Wörter dafür können auch Achtsamkeit, Aufmerksamkeit sein. Im Englischen gefällt mir „Awareness“ sehr gut. Wahrnehmen und Beobachten werden im chinesischen System dem "Yin" zugeordnet, der "Passivität" und Stille. In den klassischen Texten heißt es, Tai Chi entsteht aus dem Wu Chi. Tai Chi, das ist die Bewegung, Yin und Yang in Aktion – Wu Chi ist das Nichts, der Uranfang, die Leere, aus der heraus alle Bewegung entsteht.

 

Aus westlicher Sicht gibt es einen Regelkreis in Bezug auf Bewegung: eng verbunden mit dem Muskelsystem (hier interessieren uns vor allem die Muskeln des Bewegungsapparats, aber auch die Atemmuskulatur) sind Sinneszellen, Nervenzellen. In der Haut, nah an den Muskeln, sitzen Rezeptoren, Messfühler, die über Nerven dem Gehirn melden, was sich an der Haut so abspielt, aber auch, wie der Körper ausgerichtet ist – ob das recht Bein vorne steht oder hinten, ob der Fuß ausgedreht oder eingedreht ist, ob das Knie gebeugt oder gestreckt ist, ob das ganze, ein bisschen, fast alles oder gar kein Gewicht auf dem Bein ist, ob im Fuß das Gewicht mittig verteilt, auf dem Ballen oder auf den Fersen ist, ob die Zehen gehoben, unter Spannung oder locker sind usw. Das und noch viel mehr dem Gehirn zu melden, spielt sich im sensiblen Nervensystem ab.

 

Nun findet im Gehirn die Umschaltung auf das motorische Nervensystem statt: willentlich können wir den Muskeln Signale senden, so dass sie den Körper anders stellen. Z.B. kann nun das Bein mehr oder weniger gewichtet werden, gebeugt oder gestreckt werden, der Fuß ein- oder ausgedreht werden, das Gewicht im Fuß verlagert werden, die Zehen lang ausgefahren werden usw.

Dabei gibt es ein wichtiges Prinzip: Es kann das umso (fein-)motorischer bewegt werden, was umso mehr gefühlt werden kann, d.h. über das sensible Nervensystem mit dem Gehirn mehr verschaltet ist. Eigentlich sollte man meinen, es macht keinen Unterschied, da alle Sinnesrezeptoren mit dem Gehirn verbunden sind und ständig Reize weiterleiten, doch es wird gewissermaßen nur das richtig weiterverarbeitet, was bewusste Aufmerksamkeit bekommt.

Man kann es sich so vorstellen: alle Sinnesrezeptoren "feuern"– doch solange alles "normal" ist und nichts Besonderes passiert (z.B. Schmerz) bekommen wir es meist nicht mit. Das Gehirn denkt sich: es gibt gerade wichtigeres als intensiv mein Bein zu fühlen. Oder wie sehr nehmen Sie ihr Bein jetzt gerade im Moment wahr? Mit dieser normalen Verarbeitung im Gehirn wird das sensible Nervenzentrum im Gehirn nicht großartig ausgebaut – denn dafür besteht schlichtweg keine Notwendigkeit.

Ohne am Körper selbst etwas zu verändern können wir durch einen simplen Wechsel der Aufmerksamkeit unser Bein mehr ins Denken und Fühlen bringen – dadurch nehmen wir nun die Signale der Sinnesrezeptoren, die ja ständig feuern, plötzlich wahr: wir fühlen das Bein (ich wiederhole nun nicht alles, was oben schon mal stand…) – aber man kann ja noch mehr wahrnehmen im Bein: den Oberschenkelknochen (Knochen haben über ihre Knochenhaut auch Nervenverläufe), Schienbein und Wadenbein, die Fußknochen, alle Gelenke wie Hüfte, Knie, Fuß, die Zehen, den Spannungszustand der Muskulatur usw. Wenn wir das alles bewusst erspüren, erlauschen, dann wird im Gehirn im Zentrum des sensiblen Nervensystems auf Hochtouren gearbeitet und es bilden sich ganz viele neue Verschaltungen, sogenannte Synapsen – der Körper passt sich an, ganz ähnlich so, wie jeder Muskel kräftiger wird, wenn wir ihn häufiger benutzen und trainieren. Ganz einfach gesagt, kann man dann nach einer Zeit des (regelmäßigen) Übens mehr spüren!

Nun können wir wieder an Bewegung denken, denn: wenn ich mehr spüren kann, dann kann ich mich viel feiner und viel genauer bewegen. Dabei müssen wir nicht jeden einzelnen Muskel isoliert erspüren oder mit Namen benennen können – es reicht gewissermaßen ein Verständnis für "das große Ganze". Es ist wie in dem Ort, in dem man aufgewachsen ist: ich kenne alle Straßen, vorausgesetzt, ich bin als Kind durch die Gegend gedüst. Aber ich kann nicht alle Straßen mit Namen benennen. In einer fremden Stadt, die ich gar nicht kenne, sind mir jedoch wesentlich mehr als nur die Namen unbekannt… Also: je mehr, je subtiler ich meinen Körper spüren kann, umso besser kann ich dann Bewegung einleiten und ausführen, da mir das Ziel klarer ist. Ziel wäre in dem Fall z.B. eine bestimmte Gewichtsverteilung im Fuß bzw. im Bein, Beugungswinkel in den Gelenken, Spannung/Entspannung der Muskulatur usw.

Nebenbei: warum das alles? Ist doch ganz klar: je subtiler ich bewegen kann, umso mehr des Körpers ist in die Bewegung integriert d.h. umso mehr wird bewegt – und überall wo "bewegt" wird gibt es eine Gesundheitswirkung (gesteigerte Durchblutung usw.). Auch der meditative Akt wird intensiver und wer an "Stärke" interessiert ist: die Ganzkörperkraft nimmt zu, je integrierter der gesamte Körper wird.

Zurück zur Bewegung: Wenn ich die Bewegung also nun feiner aussteuern kann, aufgrund von besserer Wahrnehmung, gibt es quasi ein Endlos-Feedback: denn in diese feinkoordinierte Bewegung durch besseres Spüren fühle ich wiederum genauso intensiv und achtsam hinein, kann dadurch die Bewegung wieder etwas besser justieren, spüre nach, Gehirn bekommt Meldung, Motorik justiert wieder nach usw.

 

D.h. hierbei werden nicht nur die Muskeln trainiert (deren Bewegung auch die Durchblutung verbessert), sondern auch das Nervensystem!!! In einem meiner ersten Qigong-Bücher habe ich davon gelesen, dass im Qigong hauptsächlich das Nervensystem trainiert wird – nach Jahren des Sinnierens darüber ist mir nun klar, was das bedeutet, nämlich genau das, was ich eben beschrieben habe.

Soweit zur Bewegung an sich. In den chinesischen Künsten gibt es nun Besonderheiten. Um sich entspannt, verbunden und kraftvoll bewegen zu können (Tai Chi und Yiquan sind eigentlich Kampfkünste, auch wenn sie nicht als solche ausgeübt werden müssen) unterscheiden wir drei Muskelsysteme im Bewegungsapparat: die oberflächlichen und eher großen Muskeln; die tiefliegenden und eher kleinen Muskeln; sowie bindegewebige Übergänge von Muskeln untereinander, die sogenannte Muskelketten bilden und vereinfacht gesagt viele "einzelne" Muskeln miteinander verbindet.

Als erstes, bevor wir Bewegungen beginnen, gilt es, die äußeren, oberflächlichen, großen Muskeln zu entspannen und anschließend entspannt zu lassen. Das ermöglicht es uns, die Verbindung der Muskeln im ganzen Körper zu spüren (was intensiver wird, wenn die Körperhaltung mit der Zeit immer besser ausgerichtet ist) und dann aus den tiefliegenden kleinen Muskeln, gespürt von ganz innen heraus, die Bewegung zu starten. Dabei bewegt sich der ganzen Körper als EINS. Ganzkörperbewegung. Nicht alles muss dafür in eigenständiger Bewegung sein, aber alles im Gespür. Die Schultern bleiben z.B. immer gesetzt - sie haben keine eigenständige Bewegung. Die äußeren Muskeln steuern hier nun nicht, wie man es sonst gewohnt ist. (Darüber könnte man noch viel mehr schreiben, da wir es in der Regel gewohnt sind, uns fast ausschließlich von diesen Muskeln aus mit viel zu viel Spannung zu bewegen.)

Bevor man loslegt und sich einfach so drauflos bewegt, sollte man also erst mal den Ist-Zustand im Körper abfragen, d.h. das Denken/die Aufmerksamkeit auf/in den Körper hinein fokussieren und spüren. Immer so viel Spüren, wie man spüren kann – und noch ein kleines bisschen mehr. Dann die Körperhaltung korrigieren, mit allen Punkten, die man bis jetzt kennt bzw. einem gerade einfallen – in jedem Fall alle größeren Knochen und Gelenke ausrichten (Nacken, Schultern, unterer Rücken usw.) sowie den Wechsel von den äußeren auf die inneren Muskeln (außen entspannt, innen verbunden und stark). Das Atmen sowieso nie vergessen. ;-) Der wichtigste Punkt, der eigentlich bei allem mitschwingt, ist die Intention (Absicht/Wille/Vorstellung/…): es gibt unzählige Intentionen oder Bilder, die man sich nun sowohl für die Körperhaltung als auch die nun folgende Bewegung zu Hilfe nehmen kann – die mentale Seite ist enorm. Und dafür sind die vielen Intentionen da: sie helfen bei der Umsetzung der oben angedeuteten Haltungs- und Bewegungsprinzipien. Aber die Intentionen haben noch eine tiefere Bedeutung – in den chinesischen Texten zum Taijiquan steht: Yi führt, Qi folgt. (Yi = Intention, Qi = "Energie")

Übersetzt ins Westliche bedeutet das nun für mich: es ist Wahrnehmung da, und der Gedanke an Bewegung leitet einen Nervenimpuls an Muskeln (den Ort der Wahrnehmung), die sich dann kontrahieren bzw. wieder Spannung lösen. Streng genommen bewegen wir uns immer durch eine Intention – wenn ich den Arm nicht heben will, dann hebt er sich auch nicht (wie gesagt, im Normalfall…). Aber es gibt halt Unterschiede, ob die Intention sehr einfach ist wie "Arm heben" oder ob sie sehr viel komplexer ist, weil für mich der Arm nicht mehr nur Arm ist, sondern durch Training in der oben beschriebenen Form sehr viel differenzierter wahrnehmbar und muskulär zu bewegen ist, integriert in eine entspannte, verbundene Ganzkörperbewegung.

Um diese Wahrnehmungen und Gedanken die Bewegung führen zu lassen wird man sich zunächst sehr langsam bewegen müssen, sonst bewegt sich der Körper und die Intention(en) und das Spüren waren nicht dabei. Das Innere bewegt das Äußere - Yi führt, Qi folgt ("Spüren folgt"), Körper folgt.

Womit lässt sich das alles am besten trainieren? Stilles Qigong-Stehen (Zhan Zhuang) bildet eine sehr sehr gute Basis heraus für die Wahrnehmung dieses differenzierteren "inneren Körpers" der den "äußeren Körper" führt. Vorausgesetzt man spürt sehr viel hinein (sensibles Nervensystem), richtet sich immer wieder neu aus in der Körperhaltung (motorisches Nervensystem und Muskeln) und bringt "Prinzipien" in die Übung mit hinein – alles durch entsprechende Intentionen/Vorstellungen. Alleine nur vom "Rumstehen" ohne Intention lernt man es nicht.

Je mehr „Intentionen“ man in den Bewegungen hat, umso tiefer und erfüllender wird das Üben. Alle Intentionen haben zum Ziel, den Körper in seine natürliche Koordination und Stärke zurückzuführen, indem er „eins“ wird, verbundener wird und sich mit den natürlichen Kräften der Umgebung verbindet – insbesondere in der Aufrichtung zum Himmel und im Sinken zur Erde sowie in der Ausdehnung ins „Universum“ und in der Zentriertheit (Mitte) nach innen. So wird der Geist immer wichtiger und das Körperliche immer subtiler und innerlicher. Es gibt wie gesagt unzählige Arten von Intentionen, die sich teilweise sogar zunächst widersprechen ("Was soll ich denn nun tun? Sinken oder Steigen?" – "Erst das Eine (üben), dann das Andere – und letztlich Beides!"). Es gibt z.B. sehr entspannte Intentionen wie einfach nur beobachen, hinspüren, wahrnehmen; oder mehr zielgerichtete, verändernde Intentionen; aber auch "leere" Intentionen wenn man z.B. in Stille kommt und "sich selbst vergisst". Hier ein nur ein paar Überschriften von einigen Intentionen, die ich im Laufe der Zeit gelernt habe und gerne benutze:

  • Gelenke öffnen / Gefühl von Ausdehnung
  • Kompaktheit (zum Zentralkanal Zhong Ding oder insgesamt in Richtung "innen" hin
  • Zhong Ding (Zentralkanal)
  • Durchlässigkeit
  • Auf Bällen ausruhen
  • Yin/Yang (Gegensätze und deren Ausgleich/Gleichzeitigkeit)
  • In Bahnen nach unten entspannen
  • Öffnen/Schließen (Ausdehnung und Zusammenziehen) -> was sich öffnet und auseinanderfließt geht Verbindung untereinander ein, d.h. schließt wieder
  • von unten den Stand aufbauen
  • "Unten fest, oben leicht" (auch: "unten voll, oben leer" oder "alles Schwere sinkt nach unten, alles Leichte steigt nach oben" oder "Wasser sinkt, Feuer/Dampf steigt") -> Gefühl der Schwere, alles orientiert sich an der Schwerkraft -> und gleichzeitig Gefühl der Leichtigkeit und Aufrichtung nach oben
  • außen entspannt (Körper), innen ganz präsent (Geist) -> der Körper ist Yin, der Geist ist Yang
  • aber: "project out" (nicht nur nach innen vor sich hin schnarchen ;-) )
  • nicht zu entspannt – kein Tofu-Tai Chi ;-) – die inneren Muskeln arbeiten!
  • Inneres Lächeln
  • Sinken
  • Steigen
  • Spiralen
  • Fühlen in alle 6 Richtungen
  • Körperhaltung ausrichten im Inneren -> Knochenstatik
  • überhaupt: alle möglichen Körperpunkte und Strukturen wie Muskeln, Gelenke usw. …
  • sich in eine angenehme Umgebung visualisieren
  • Kontakt mit der Umgebung imaginieren (Fäden, Federn…)
  • entlang von Muskelketten spüren und aufbauen
  • Bewegung von innen, von einem Zentrum aus (im Snake Style der Brustkorb – im Yiquan im ganzen Körper gleichzeitig)
  • der "innere Körper" (Geist – mind-energy) bewegt den "äußeren Körper", so wie Kleidung auf dem Körper ganz natürlich durch Körperbewegungen mitbewegt wird, so kommen diese Körperbewegungen durch Intentionen zustande
  • usw. usf.

 

 

Eine Wahrnehmung für den "inneren Körper" kann herausgebildet werden, wenn mindestens folgende vier Aspekte beachtet werden:

  1. Ausrichtung der Körperhaltung und Beibehaltung derselben durch die gesamte Übung
  2. Entspannung des Körpers (im Sinne des oben beschriebenen "Wechsels" der Muskelsysteme)
  3. Starke geistige Fokussierung / Intentionen
  4. mit "in den Körper lauschen"/spüren/fühlen/empfinden

Der Körper muss also weniger machen - die richtige Körperhaltung und Entspannung ergmöglichen es der Intention und dem Fühlen, sich von innen heraus auszubreiten. Das Nervensystem ist der "Vermittler" zwischen dem inneren Erleben (Fühlen, Denken...) und dem Körper. Was der Körper macht, ist Ausdruck und Resultat der Führung von innen heraus.

Es wird hoffentlich deutlich: mit reinem Vormachen/Nachmachen bzw. Bewegung kopieren und dann abspulen verpasst man den aufregendsten Teil!

 

Dabei kommt leider bzw. eher zum Glück nie ein abgeschlossenes Endresultat heraus – der Prozess kann immer weiter verfeinert werden. Dabei hilft mir persönlich ein Wissen über die anatomischen Strukturen mittlerweile sehr. Außerdem Lesen, Nachdenken, Fachsimpeln, Erspüren – und regelmäßiges Üben natürlich nicht zu vergessen. :-) Viel Spaß dabei!